In der Nachkriegsgeneration aufgewachsen, war das Thema im Familienkreis größtenteils nicht präsent. Meine Einschätzung ist: Teilweise ja, teilweise nein.
Am offensten ging Vater mit dem Thema um. Weit vor der Machtergreifung der Nazionalsozialisten, noch in den 20ern, hielten die Nazis Versammlungen in Ostpreussen. Für Vater waren das Helden. Ganze Kerle. Er ging völlig in der Ideologie auf.
Dann fing er an, sich mit Gott zu beschäftigen, besser gesagt, er war beeindruckt von der Wortgewalt der damaligen Prediger. Aber er konnte nicht begreifen, dass man Christ werden wollte. Er hielt es lieber mit einem wilden Leben und verwegenen Motorradfahrten. So hat er einmal erzählt, wie er mit Nazi-Flagge durch ein Kommunistendorf fuhr, um zu provozieren. Opa redete auf ihn ein, aber Vater sagte nur “wie soll ich mich vor Gott fürchten, wenn es doch keinen Gott gibt.” Vater war Nazi durch und durch.
Er erzählte weiter: Bei einem “Kameradschaftsabend” der Nazis in München hatte er eine Erscheinung. Er sei alleine im Weltall und nur Gott ist noch da. Ab dem Zeitpunkt war er überzeugt davon, dass es einen Gott gibt. So fing er an, zu Gott zu beten. Aber mit Christen wollte er nach wie vor nichts zu tun haben. Das änderte sich, als er sich mit den Schriften der Gemeinde Gottes auseinandersetzte. Und schließlich entschloss er sich gegen viele innere Widerstände, doch als Christ zu leben.
Das hatte für seine Naziüberzeugung Konsequenzen. Für ihn war klar, dass Nationalsozialismus und Christentum nicht zusammen passen. Also ist er 1936 aus der Partei ausgetreten, hat seine Uniform verbrannt zusammen mit allen Auszeichnungen, die er erhalten hatte. Durch einen Freund hat er erfahren, dass dieses Vorgehen ihn auf die schwarze Liste der Nazis brachten, was aber letztlich keine weiteren Konsequenzen hatte.
Vater war ab da strikter Anti-Nazi, aber musste natürlich trotzdem in den Krieg ziehen. Er scheute auch dort keine Auseinandersetzung, wenn man ihn wegen des christlichen Glaubens anging. So hat er erzählt, dass man an manchen Abenden die Sitte hatte, auf den Führer trinken. Mit einem Ritual. Vater als mittlerweile strikter Antialkoholiker, machte das Ritual mit, nur den Teil, an dem das Glas geleert wurde, ließ er aus. Sein Vorgesetzter stellte ihn zur Rede. “Sommerfeld, Sie trinken nicht auf den Führer?” Vater war schlagfertig. “Wie soll ich auf den Führer trinken, wenn der Führer doch selbst keinen Alkohol anrührt?”. Das Thema war erledigt. So war Vater. Wenn er von etwas überzeugt war, ging er unbeirrt seinen Weg.
Zuerst in die SS eingetreten, als man das noch nicht musste. Als all die Opportunisten eintraten, überwog für ihn die christliche Überzeugung und er ist mitten während des Naziregimes wieder ausgetreten.
Allerdings war er der einzige, von dem so etwa in der Familie bekannt ist.
Teil der Nazi-Ideologie war es, das Bauerntum zu fördern, “damit man sich selber voll versorgen konnte”. Unsere Vorfahren waren Bauern. Also haben sie von der Nazi-Ideologie profitiert. Ihr Berufsstand wurden bewusst gefördert. Zusätzlich noch in dem Lebensraum, den man im Nazidenken als völkisch ansah und der mit geschickter Siedlungspolitik endgültig deutsch werden sollte.
Also gab es soweit bekannt – mit Ausnahme von Vater – wohl keine Ablehnung des Nationalsozialismus. Widerstandskämpfer sucht man in unserer Familie vergebens.
Gepaart war das Ganze aber mit einer hohen Naivität, zumindest wurde das erzählt. Man glaubte der Nazi-Propaganda ohne zu hinterfragen und blendete mögliche Problematiken aus. Außerdem lebte man auf dem Land, weit weg von irgendwelchen Konzentrationslagern. Nur ist es schwer zu glauben, dass es in der unmittelbaren Umgebung keine Juden gab, die plötzlich verschwanden. Es ist soweit unbekannt, ob darauf reagiert oder wie damit umgegangen wurde. WIR wissen, was geschah. Mit Nazi-Propaganda im Kopf, mag man vieles gedacht haben.
Zwei weitere Faktoren kamen für unsere Familien hinzu. Das eine war, dass man seit Jahrhunderten in einer Wagenburg gelebt hatte. Wir sind Fremde hier – Kolonisten – und halten zusammen. Was da draußen passiert interessiert uns nicht, wir halten zusammen. Was mit Juden passiert interessiert uns nicht, wir halten zusammen. Positiv war das andere Prinzip der Familien Sommerfeld und Adameit. Gott war immer wichtiger als eine ideologische Strömung. Deshalb war der Einfluß der Nazis ins Denken begrenzt.
Es sei dazu aber auch vermerkt, dass in alten Fotos der freikirchlichen Gemeinden aus den 30ern manch Mann das Hitlerbärtchen trug.
Zusammengefasst ist nur Vater als Antinazi bekannt. Soweit heute ohne Zeitzeugen beurteilbar, waren unsere Familien Mitläufer. Von echten fanatischen Nazis (bis auf Vater für einige Jahre) ist weiter nichts bekannt. Von Widerstand auch nicht.
Soweit die enge Verwandschaft. In der weitläufigeren Verwandschaft gibt es durchaus Personen, von denen im Bundesarchiv SS-Akten vorhanden sind…