“Papa, erzähl doch mal was Du noch über Deinen Opa weißt.”
Nun erzählte Papa “sehr blumig”. Wenn er einen Motorradunfall beschrieb, kullerte er sich auf dem Boden, um zu verdeutlichen, wie er sich abgerollt hat. Und so weiter. Deshalb sind aus 3 Stunden Zuhören sehr wenig wirkliche Information herausgekommen. Aber hier was übrig blieb. Erstmal das Transkript der Erzählung, dann die Kommentare dazu.
- Die Familie von Gottfried stammt aus Brandenburg und war evangelisch.
- Unter Katharina der Großen nach Polen ausgewandert. Angeblich “ca. 1850”.
- Gottfried wurde zum Militärdienst eingezogen. “Alle jungen Männer des Dorfes mussten antreten und die Rekrutierer zählten “<eins> <zwei> <Militär> <eins> <zwei> <Militär>.” Es traf Gottfried. Der normale Militärdienst dauerte 25 Jahre. Gottfried hat sich Sand in die Schuhe geschüttet, wurde daraufhin wehruntauglich und nach ca. 20 Jahren entlassen.
- Jeder Soldat bekam Land in Russisch-Polen (die polnischen Gebiete unter russischer Herrschaft). Er selbst bei Lublin, der genaue Ort ist unbekannt. So wurde Gottfried Bauer/Landwirt.
- Gottfried hatte 8 Kinder, davon 5 männlich und 3 weiblich. Bei Lublin wurde Vater Gustav geboren.
- 2 Onkel sind meinem Vater bekannt gewesen.
- Onkel Adolf wird als wilder Mann beschrieben mit Alkoholproblemen, der einen Offizier im Streit erschossen hat. Ist im 1. Weltkrieg gefallen.
- Vater Gustav ist 1898 zu den Baptisten konvertiert. Weil er sich von den Baptisten taufen ließ, wurde er enterbt und aus der Familie verstoßen. Daraufhin hat Gustav sich nach Amerika aufgemacht und saß schon in der Bahn. Dort hat ihn ein unbekannter Baptist überredet, nicht zu fahren und hat ihm eine Tätigkeit als Verwalter angeboten, die Gustav annahm und so in Posen 2 Güter verwaltete. Er hat in Westpreussen Land in Größe von 20 Hektar erworben. Makler war die West/Ostpreussische Siedlungsgesellschaft, die bankrotte Güter aufkaufte und gewinnbringend weiterverkaufte. So ist Gustav ca. 1907 nach Jakobkau, Kreis Graudenz gekommen.
- Anekdote am Rande: Eine Tante wurde vom Blitz getroffen und war daraufhin gelähmt. Man hat sie in Lehm gelegt, bis die Symptome verschwunden waren.
- Gottfried hat angeblich im russisch-japanischem Krieg gekämpft und war bis Japan.
- In der Familie existierten Gerüchte, dass Gottfried bei seiner Beerdigung evtl. noch am Leben war.
Versuchen wir mal das Ganze grob einzuordnen. Der Kern wird ja stimmen.
- 1850 ausgewandert. Katharina die Große hat Ihr Dekret für Russland 1762 und später erlassen. Da war nicht von Polen die Rede. Die Zeit 1760-1780 stimmt, da ist Peter Sommerfeld in Polen in Erscheinung getreten. Der Rest ist wohl eher symbolisch zu verstehen. Unter Katharina gab es den großen Aufbruch nach Osten und Sommerfelds waren dabei. Also schlicht um 100 Jahre vertan, ansonsten wohl korrekt.
- Zum Militärdienst siehe weiter unten. Es gibt keine Zweifel, Gottfried war Berufssoldat, das haben alle in der Familie so erzählt. Er war dadurch gewissermaßen geadelt. Wann, wie lange, wie gesagt: Siehe unten.
- Desgleichen warum und wie er nach Lublin gekommen ist.
- Gottfried hatte 10 Kindern. Davon sind zwei relativ jung verstorben. Es blieben 6 männliche und 2 weibliche Abkommen. Da war mein Vater sich aber auch nicht sicher. “Ich glaube” 5 männlich und 3 weiblich. Ist ja aber auch dicht dran.
- Vom Kind Adolf wird erzählt, dass zweimal sein Haus abgebrannt ist, weil er angetrunken mit Pfeife im Mund eingeschlafen ist.
- Das Gustav enterbt wurde, kann ich nirgends finden. Die Brüder müssen ihn aber geliebt haben, da jeder ein Kind auch Gustav genannt hat.
- Gottfried kann nicht im russisch-japanischem Krieg gekämpft haben. Der war 1904/05, da war er tot. Da kann es nur um Gustav gehen. Mein Vater sagte Opa, vermutlich ist er aus dem Modus “sein Opa” in “unser Opa” gewechselt.
So stellt sich nach Datenlage das Leben von Gottfried dar:
Frühe Jahre
Geboren in Ostrowki am 5. Februar 1824. Die Familie ist kurz danach nach Mielinek bei Chodecz gezogen, dort wurde sein jüngerer Bruder (Jan) August geboren. Der Vater ist dann weiter gezogen nach Lubienic Holendry, ganz in der Nähe. Also hat er seine Jugend im “Großraum” Chodecz verbracht.
Militärzeit
Glauben wir mal die Geschichte von Papa. “Eins, zwei, Militär”. Die ist zu real, um zu erfunden zu sein.
25 Jahre Militärdienst. Ok. Davon vermutlich 1/3 aktiv und der Rest als Reservist. Vermutlich in der russischen Armee, obwohl dieser Artikel eher dagegen spricht. Preussische Armee passt aber auch nicht so ganz. Kurzum, wir wissen es nicht sicher, aber es dürfte die russische Armee gewesen sein. Ist am wahrscheinlichsten.
Mit 21 einberufen, dass wäre 1845. So 8-10 Jahre gedient, dass würde dazu passen, dass Gottfried in der Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts wieder in Chodecz als Zeuge und mit einer Heirat auftritt. Reservistendasein und dann ein Grundstück 1870 in Trojnia. Passt soweit. Den Schmankerl mit dem Sand in den Stiefel kann man glauben, aber ich würde es eher als Versuch abtun.
Gesichert: Er war Berufssoldat. Und das für ca. 10 Jahre von etwa 1845 bis 1855.
Zeit in Chodecz von ca. 1855 bis 1870
Gottfried hat nach seiner Rückkehr nach den Dokumenten als Landarbeiter sein Geld verdient. Dazu passt sowohl, dass er wiederholt als “wyrobnik” bezeichnet wurde und mehrmals seinen Wohnsitz gewechselt hat. So wie die Bauern halt Bedarf und Arbeit hatten.
Er hat 1856 Dorothea Kisser geheiratet. Von dieser Ehe wurde weder Nachwuchs gefunden, noch eine Sterbeurkunde von Dorothea. Klar ist nur, dass er bei seiner zweiten Heirat als verwitwet bezeichnet wurde.
Danach hat er 1859 Anna Rosina Missal, meist auch Rosalie Missal genannt, geheiratet. Die Missals gehören zu den Gründungsfamilien der Ortschaft Psary bei Chodecz. Auch sonst haben sich die Wege der Familien häufiger gekreuzt, wie aus vielen Bezeugungen zu entnehmen ist. Das war mit Sicherheit so etwas wie “Bauernadel”, zu so einer Familie zu gehören.
Insgesamt hat er 10 Kinder bekommen. Davon die Hälfte in Goclaw, bzw. auch sonst in der Umgebung von Chodecz. Dort gab es noch einen weiteren Sommerfeld, den Franz. Der taucht auch später nochmal auf. Spekulation gut möglich, dass beide Cousins waren und er auf dem Hof von Franz ausgeholfen hat. Jedenfalls sind 3 Kinder in Goclaw und 2 weitere in der anderen Gegend von Chodecz geboren.
Chodecz und Umgebung ist ansonsten eine weitflächige, eher langweilige Landschaft. Die Höfe der Sommerfelds könnte man identifzieren, wenn man die genauen Hausnummern wüsste. Es gibt immer wieder neben topp modernen Ferienhäusern alte Gehöfte, und da müssen die gelebt haben.
Zeit in Trojnia ab 1870
Wie mein Vater erzählt hatte, hat er dort wohl Land bekommen und war einer der 10 Gründerfamilien von Trojnia.
Man kann dieses Trojnia finden, wenn man in Google den Ort sucht und Streetview aufruft. Man sieht den Ort zwar nicht, aber zumindestens das Ortsschild. Der Ort selber liegt mitten in einem Waldgebiet, drum herum ein paar Ackerfelder und besteht aus ca. 10 Häusern. Wenn man in den polnischen Staatsarchiven weiter forscht, hatte er das Haus Nr. 12, ein Haus direkt an der Straße, wenn sich die Nummerierung nicht geändert hat (siehe auch hier, im Zentrum, direkt an der Strasse rechts, das wahrscheinliche Wohnhaus). Dort sind dann die anderen 5 Kinder geboren, und Gottfried und Rosalie sind hier gestorben. Das Kind Julius hat offenkundig den Hof übernommen, von ihm gibt es Geburtszertifiakte bis zum 1. Weltkrieg. August war dort gemeldet, hat aber in Bielany gewohnt. So nach und nach haben sich dann die Kinder in die Welt verstreut. Wolhynien, Ostpreussen, andere Orte um Lublin. Von einigen gibt es gar keine Spuren, aber sie sind auch nicht in den amerikanischen Einwanderlisten zu finden. Mag sein, dass sie ebenso wie August nach Westpolen gezogen sind.
Der Geschichtshistoriker und Nazi Kurt Lück hat in seinem Buch “Die deutschen Siedlungen im Cholmer und Lubliner Land” Auf Seite 296 die Geschichte der Orte um Lubartow aufgezeichnet:
Interessant ist hier das Dorf Sobolew, in der Kolonist Sommerfeld ein Bethaus gestiftet hat. Das war der besagte Franz Sommerfeld, der auch schon in Goclaw wohnte und der höchstwahrscheinlich mit Gottfried verwandt war. Es ist stark zu vermuten, dass Gottfried auf seinem Hof in Goclaw gearbeitet hat, ist aber auch Spekulation.
Mehr war über die Alteltern nicht zu finden.