Saufen und Taufen

Die Vertriebenverbünde malen ein glorifiziertes Bild des Lebens in Ostpreussen, Schlesien und anderen ehemaligen Ostgebieten Deutschlands. Sonnenschein, das Abendlied unter Linden, “guter Mond, Du gehst so stille”, die Natur, der eigenen Hof – alles ein Hort der Glückseligkeit. Die Mücklein spielen, aber stechen tuen sie nicht.

Das mag in der Periode unmittelbar vor dem 2. Weltkrieg tendenziell auch wahr gewesen sein, aber davor sah es anders aus. Und spätestens unsere Großeltern haben auch diese anderen Zeiten kennengelernt. Aber weil man sich ja lieber an das Gute in der Vergangenheit erinnert, wurde es verdrängt.

Das Leben war armselig. Die Kolonisten wurden gelockt und dann kam das böse Erwachen:

Nach der Ankunft stellte sich heraus, dass eine ganze Reihe von Versprechungen des Manifestes der Zarin nicht erfüllt waren. So war das Land für die Kolonien noch nicht vermessen, von den versprochenen Häusern und Nebengebäuden stand noch kein einziges, an Baumaterial fehlte es ebenfalls. Die meisten Ankömmlinge mussten deshalb den ersten Winter ... zum Teil in primitiven Erdlöchern verbringen.
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Die ersten Jahrzehnte der Siedler waren geprägt von Armut, Missernten, die zu Hungersnöten führten und allgegenwärtiger Existenzangst.

Ein Auszug aus Cholmer Land – Landleben:

Der Erste arbeitet sich zu Tod, der Zweite leidet auch noch Not und erst der Dritte - der hat Brot.

Dies war ein bekannter Spruch aus der damaligen Zeit. Ein Zeitzeuge, Sigismund D. [ *1921 +2018 ],  drückte es so aus: "Die einen hatten wenig, und die anderen hatten noch weniger, reich war dort niemand". Und man bedenke, daß es bis zur Umsiedlung 1940 in vielen Dörfern ... keinen elektrischen Strom und keine Wasserleitungen gab. ... Als Beleuchtung diente die Petroleumlampe, mit Torf wurde überwiegend geheizt, der mühsam von Hand gestochen und getrocknet werden musste, und aus Hausbrunnen schöpfte man jegliches Wasser. Selbst nach dem 1. Weltkrieg wurden noch mit dem Dreschflegel die Körner aus den Ähren geschlagen, eine  anstrengende Arbeit, ebenso das Mähen des Getreides mit der Sense und das Binden der Garben. Die Kartoffeln wurden mit der Hacke aus dem Boden geholt.
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Die Häuser aus Holz waren eher klein und bescheiden und hatten einen Grundriss von ca. 4 mal 8 Meter.  Die Wände wurden aus Balken in einer Dicke von 10 bis 12 cm erstellt, an den Ecken verzahnt und von außen meistens mit Bretter verschalt. Das Dach bestand aus Sparren, Dachlatten und etwa 20 cm dicken Strohschichten. Wenn der Wind keinen größeren Schaden anrichtete, hielten die Dächer durchaus 20 Jahre.

Aus der Seite von pro-heraldica.de:

Die Ursachen dieser geringen Lebenserwartung? Unter anderem eine schlechte Ernährung, katastrophale Hygienebedingungen und die damit verbundenen Krankheiten. Doch wie sollte man verhindern, daß eine Krankheit ausbrach und sich zugleich rasend schnell verbreitete? Schließlich musste – um nur ein Beispiel zu nennen – ein Brunnen für alle und alles genügen. Hier holte der Vater mit den Kindern das Wasser für das Vieh, anschließend schrubbte die Großmutter dort die Wäsche und zuletzt schöpfte die Mutter noch Wasser zum Kochen.

Es war es das einfache und in der Regel bitterarme Volk, das unter Krankheiten und grassierenden Seuchen am meisten litt. Es lebte in vollkommen heruntergekommenen Stadtvierteln, Ortschaften oder einsamen Gehöften, wo alles gleich armselig aussah. Hier rannten die Kinder Sommer wie Winter mit viel zu dünnem Schuhwerk (wenn überhaupt!) im Dreck herum. Die Ratten huschten durch Häuser und Gassen.

Und aus dem Buch von Joseph Häßler: Die Auswanderung aus Baden nach Rußland und Polen im 18. und 19. Jahrhundert. Online zu finden unter https://www.familysearch.org/ark:/61903/3:1:3Q9M-CS8D-QS5K-9?i=108&cat=585399:

Eine drastische Schilderung der Verhältnisse gab der Schmied Johann Kreidler aus Schönbrunn: 
"Kreuz und Leiden genug! Erstlich hat man etwas, so büßt man es ein, bis man auf den Platz kommt. Hat man nichts, so muß er betteln,und wenn er nichts zu betteln bekommt, so fressen ihn die Läuse. Und wenn einer die zwei Stück überwinden kann, der ist ein kluger Mann. Die Beschaffenheit ist in Polen so, wie ich Euch schon angezeigt habe. Die Gebäude oder die Häuser sind noch ein bischen schlechter als in unserem Lande die Schweineställe, und der Feldbau ist nichts als lauter Sand oder auch Lehmboden und auch Sumpf und Müs (Moos). Und wo dann und wann ein Stück gut Feld wäre, so heißt es, es gehöre der Herrschaft. Das bekommt niemand von uns Leuten.

Wie schlecht muss es einem in Deutschland gegangen sein, um so ein Leben auf sich zu nehmen?

Die Generationen, die wir nachverfolgen konnten, hatten diese Ursprünge hinter sich und sich mehr oder weniger zurecht gefunden. Wie sah das Leben dann aus? Ein Familienbericht, der recht gut den Alltag beschreibt, als auch die Frömmigkeit der Menschen ist unter “The story of a preacher from Russia” auf englisch zu finden (hier nicht zitiert). Von Saufen bis zum Taufen – alles dabei.

Schliesslich ist noch das Buch von Lück, Die deutschen Siedlungen im Cholmer und Lubliner Lande äußerst aufschlussreich. Lück ist ein Historiker, der ein Jahr in der Provinz Lublin recherchiert hat, viele unbekannte Quellen gesichtet (Stadtarchive, Zeitungen usw.) und Zeitzeugen befragt hat. Seine Darstellungen des deutschen Kolonistenlebens passen exakt zu den Erzählungen aus unserer Familie. Charakter, Art und Hintergrund unserer Vorfahren werden verständlich. Prägend waren die Armut, der Kampf mit der Natur, der Glaube und der Schnaps. Ein paar Auszüge (s. 49ff):

Ein Paradies war es nicht, in das die deutschen Kolonisten einwanderten. Man lese nur ältere polnische Beschreibungen (Anm. Quellen bei Lück benannt): "Man kann nicht sagen, dass die Buggegenden (Anm. Bug ist ein Fluß) eine besondere Fröhlichkeit atmen, dass sie weite fruchtbare Ebenen besitzen, in denen sich das Auge verliert." Und auch "Traurig und einsam sind diese Gegenden. Sand, Sümpfe, dunkle Tannenwälder und Flächen. Dazwischen graue, ärmliche Dörfer, die sich abwechselnd dem gelangweilten Auge darbieten."
Trinkerei in den Siedlungen (S. 56ff)

Die Leute blieben bis zum Weltkrieg (Anm.: der 1.) sich selbst überlassen, zeitweise richtig verwildert. Der erbärmliche Sandboden und die Freude am Branntwein verhinderten, dasss die Leute sich hocharbeiteten.
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Doch waren die Leute so arm, dass sie anfangs in Erdbuden auf Hügeln, ..., wohnten. Nach Verkauf von Holz konnten erste Häuser gebaut ... werden. Auch in dieser Kolonie hat eine Schenke mit dazu beigetragen, dass die Leute sich sehr langsam aus der Not aufrappelten.
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Auch hier … führte man anfangs ein lustiges Leben, da es eine Schenke gab, und nur der war ein braver Kantor, der gut mittrinken konnte. [wie in dem Selbstbericht von Gustav beschrieben].
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Der sandige Boden und die Armut hinderte die (Land)wirte nicht, dem Trunk sich zu ergeben.
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Leider wirkt die Nähe der Stadt auf so viele Gemeindeglieder schlecht ein: man besucht … die Stadt zu oft, läßt dort in den Schenken viel Geld und gewöhnt sich an das Bummelleben.
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Die Leute waren arm, ergaben sich aber dem Saufen, da eine Schenke … existierte. Seit die Schenke eingegangen ist, hat das Saufen nachgelassen.

Wer weiß, wie viele unserer Vorfahren Stammgäste waren…

Über die Frömmigkeit und das Taufen im nächsten Kapitel.

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