Unsere Vorfahren war soweit bekannt evangelisch. Das änderte sich dann um das Jahr 1900 herum. Die meisten unserer Vorfahren konvertierten zum baptistischen Glauben oder zur Bewegung der “Gemeinde Gottes”, die den Baptisten nicht unähnlich ist. Die meisten heute lebenden Familienmitglieder haben sich freiwillig oder unfreiwillig damit auseinander setzen müssen.
Baptismus und die deutschen Kolonisten
Der Baptismus ist von Prinzip her eine evangelische Religion und hat mit dieser große Gemeinsamkeiten. Der größte Unterschied besteht darin, dass man in der evangelischen Kirche durch die Taufe Christ wird (“Kindstaufe”), wohingegen man sich als Baptist erst für ein christliches Leben entscheidet und die Taufe dann das öffentliche Bekenntnis dieser Entschlusses ist (“Erwachsenentaufe” oder bei bereits kindsgetauften “Wiedertäufer”).
Das Standardwerk über die Baptisten in Polen stammt von Eduard Kupsch – Die Geschichte der Baptisten in Polen 1852 – 1932. Da die 70-jährige Veröffentlichungsfrist abgelaufen ist, ist das Buch auf der Webseite hinterlegt. Allerdings in Fraktur geschrieben.
Viele Gemeinsamkeiten gibt es zu Wolhynien für Adameits. Eine öffentliche Schrift für die Situation dort ist unter The German Baptist Movement in Volynia von Donald Miller zu finden (hier nicht zitiert).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind baptistische “Missionare” durch die Kolonistendörfer gezogen und haben Ihre Version vom Protestantismus gepredigt. Viele Kolonisten waren sehr empfänglich für die neue Lehre.
Allerdings gab es zwischen der evanglisch-augsburgerischen Kirche und den Baptisten in den ersten Jahrzehnten große Auseinandersetzungen, die nicht selten handgreiflich ausgetragen wurden.
Einige Zitate aus dem Buch von Kupsch, die verdeutlichen, warum Gustav nach seiner Konvertierung zum baptistischen Glauben keinen leichten Stand bei seinen Brüdern hatte:
In den letzten Jahrzehnten des vergangenen [19.] Jahrhunderts, als die einwandernden Baptisten nun auch in den … Kolonien zu missionieren versuchten, wurden die Glaubenskämpfe … oft mit dem Knüppel ausgetragen. Die Baptistenprediger wurden in einigen Kolonien halb totgeschlagen. (S. 274)
Es gab Pastoren, die sich hinreißen ließen und das Volk in gehässiger Weise gegen die Baptisten aufhetzten. Einige Male kam es vor, daß Leute, welche die Versammlungen der Baptisten besuchten, auf offener Straße angefallen und blutig geschlagen wurden. Auch der weltliche Arm wurde wiederholt in Anspruch genommen, was an verschiedenen Orten zu Transporten und Kerker geführt hat. (S. 293f)
Als im Jahr 1869 drei junge Männer, Radecki, Martin und Konrad eines Tages das Dorf Sobutka bei Dabie besuchten, lud eine Frau, welche die Wahrheit liebte, ihre Nachbarn zur Versammlung ein. Viele kamen, doch nicht alle, um Gottes Wort zu hören; es kamen auch solche, Streit zu suchen und die Baptisten gefangen zu nehmen. Lange Zeit stritt man um die rechte Auslegung einer Schriftstelle, die - wie man behauptete - in einer alten Bibel gefunden wurde und aus welcher die Gegner nachzuweisen suchten: "Die Baptisten-Gemeinde ist eine Mördergrube". (S. 295)
Am 2. Mai trat ein baumstarker Mann unter den schändlichsten Schimpfreden in Aschendorfs Wohnung, die an den Betsaal stieß, fiel über ihn her und mißhandelte ihn. Mit Hilfe seiner Frau gelang es Aschendorf, den Feind aus dem Zimmer zu schieben und die Tür zu verschließen. Der darüber äußerst empörte Baptistenfeind holte sich des Pastors Bruder zur Hilfe und machte mit diesem den Versuch, die Tür zu sprengen. Nach langem Toben vor dem Hause suchten sie allerlei Geröll, als alte Pantoffeln, Geschirr, Büchsen und Körbe zusammen und hängten es den Baptisten zum Spott an die Tür des Betsaals. Als sie immer neue Versuche anstellten, die Tür aufzubrechen und mit Mord und Gliederbrechen drohten, flüchtete Aschendorfs Frau durchs Fenster zur Polizei, die dem Aufruhr Einhalt gebot. (S. 296)
An diesem Ort mussten sich auch andere Baptisten schändliche Misshandlungen gefallen lassen. So wurde der Baptist Bachmann vom Pöbel "getauft", d.h. von der Brücke in den Fluß gestossen. (ebenda)
Auch nach Turek kamen die Boten Gottes. Die ersten Versammlungen wurden hier von dem luth. Pastor Teichmann und vom Volke heftig angefochten. Sonntag, den 25. August 1872, predigten die Missionare Aschendorf und Hohensee in eines Freundes Wohnung vor vielen Menschen, die aus Neugier gekommen waren. Die Störung, die in dieser Versammlung gemacht wurde, bewies, daß die Leute keine Achtung vor dem Worte Gottes hatten. Ein Mann versuchte während der Predigt die Bibel zu beschädigen, andere unterhielten sich oder lachten, noch andere stießen sich an und trieben ihre Possen. Eine Frau, die aufmerksam der Predigt folgte, konnte diesem Treiben nicht länger zusehen, sprang auf und versetzte einem Mann, der es zu arg trieb, einige Ohrfeigen. Dadurch wurde die Störung noch größer. Auch von der Straße aus wurde störend in den Gottesdienst eingegriffen. Man warf Steine zum Fenster hinein, spottete, schlug an die Wände, blökte und suchte die Versammlung auf jede Art und Weise unmöglich zu machen. Die Prediger aber hielten durch. (S. 298)
So geht es munter weiter in den Berichten. Beerdigungen wurden von seiten der offiziellen Kirche absurd teuer angesetzt oder es wurde der Friedhof mit der Begründung, “nicht kirchlich getaufte” seien wie Selbstmörder auf ungeweihtem Boden zu begraben, verweigert.
„Ist der Tod wirklich erfolgt, so ist der Körper des Selbstmörders, bloß von einer Wache begleitet, an einen außer dem Leichenhofe gelegenen Ort gebracht, und durch gerichtliche Diener verscharret.“
Die extreme Glaubenshaltung ohne Kompromisse (“Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen”, usw.) und auch die Streitigkeiten über einzelne Bibelverse, die wir heute als völlig überzogen betrachten, werden so zumindest verständlich. Auch die “Wagenburg”-Mentalität wird klarer. “Wir” sind Gottes Volk und die anderen sind “das Volk” oder fromm formuliert “die Welt”.
Allerdings stammen alle obigen Zitate einseitig aus der Sicht eines Baptisten. Eine unabhängige Quelle sagt aus, dass auch die Baptisten bei passender Gelegenheit ihre Argumente mit Fäusten vertraten (ohne Quelle, nicht mehr gefunden). Es wird vermutlich so sein, dass die Glaubensauseinandersetzungen zwar das Hauptmotiv der Streitigkeiten war, aber manch persönliche Rechnung nebenbei auch noch beglichen wurde.
Für unsere Familie sind diese Hintergründe bedeutsam, weil sie doch fast nur aus Konvertierten besteht. Doch realistisch betrachtet waren die Freikirchen doch eine ziemliche Minderheit. Es kursieren zweistellige Personenzahlen für die einzelnen baptistischen Gemeinden.
Weiter mit den Hintergründen unserer Familiengeschichte.
Von Eduard Kneiffel (ev. Theologe) – Die Geschichte der evangelischen Kirche in Polen (S. 250):
Die baptistische Bewegung machte nach ihrem schwierigen Anlauf, von dem bereits die Rede war, weitere Fortschritte in Polen. Im Jahre 1868 kam Alf nach Lodz, wo er für seine Sache warb. Die ersten Lodzer Baptisten waren der Buchhalter Johann Rohner, der Weber Heinrich Pufahl und Kant. Als Andachtsraum diente das Versammlungslokal an der Nawrotstraße 36. Im Jahre 1870 wurde der Baptismus gesetzlich anerkannt. In Lodz selbst spalteten sich die Baptisten in die Gruppen Rohner und Rondthaler.
Um 1850 beginnen die Baptisten ihre Missionstätigkeit in Polen. Und schon 1870 gibt es die erste Spaltung.
Die “Gemeinde Gottes”
Entstanden ist die Gemeinde Gottes eigentlich als Einigungsbewegung. Das Credo war “wer an Gott glaubt, gehört zur Gemeinde Gottes”. Deshalb gab es auch keine Mitgliedschaft, denn man weiß ja nicht, wer an Gott glaubt. In Ostpreussen und Wolhynien war die Gemeinde Gottes besonders stark verteten. Von Kupsch (Geschichte der evangelisch-augsbugerischen Kirche in Polen, S. 227):
Der Werbearbeit der Baptisten, der „Gemeinde Gottes" (Fußwascher) und der Fetler-Sekte wurde durch intensive kirchliche Arbeit entgegengewirkt.
Aus Sicht der evangelischen Kirche waren sowohl die Gemeinde Gottes als auf die Baptisten klar Sektierer. Auch von Kupsch S. 251:
In Wolhynien bestand die Sekte der „Fußwascher" oder der sogenannten Gemeinde Gottes. Es waren Großtäufer, die vor der Feier des hl. Abendmahls die Fußwaschung übten, ihre Sündlosigkeit (Heiligkeit) allen Ernstes hervorkehrten und sogenannte Lagerfeste veranstalteten. Ihre Hochburg war die Kolonie Amelin bei Tuczyn.
Es gibt noch eine ganz gute Zusammenfassung der “Gemeinde Gottes” in Wolhynien hier auf Volynwiki.
Tja, die Fußwaschung.
Das war wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. Das Abendmahl ist allseits bekannt und “man tut es zu Jesu Erinnerung.” Das solle man doch bitte mit der Fußwaschung auch tun, die sei auch gemeint. Und so wurde es fleißig praktiziert. Männlein und Weiblein getrennt ging es in die Räume. Reihum bitte die Füße waschen (eher beträufeln), damit keiner dem anderen eine Gegenleistung bringen kann. Gleiches Wasser für alle, später wurde irgendwann getauscht. Nicht, weil man sich Sorgen um Pilze und andere seltsame Dinge machte – sondern weil das Wasser kalt wurde. Trockener Kommentar eines weiblichen Gemeindemitgliedes “und die alten Damen haben sich mühselig die Strumpfhosen ausgezogen”.
Auch wenn die Gemeinde Gottes in ihrer Gesamtheit ganz sicher keine Sekte ist, so ist sie doch nur eine weitere Denomination der weiten frei-evangelischen Welt.
Dazu gehört dann leider auch, dass die “Einigungsbewegung” heute viele Strömungen kennt, die sich alle Gemeinde Gottes nennen. Kann man mittels Wikipedia gut nachvollziehen. Es geht von ganz konservativ, Leuten die Ihre Kinder im Privatunterricht aufziehen, weil die staatlichen Schulen zu verdorben sind und es Sexualkundeunterricht gibt und auch die Evolution gelehrt wird. Man geht nicht zum Arzt, denn Gott heilt auf Grund von Gebet. Diese Gruppierung hat es in die Presse geschafft, weil die körperliche Züchtigung teil der Erziehung war.
Aber natürlich gibt es auch die ganz normalen Gemeinden, die frei sind von solchen Gedanken und bei denen – nach Ansicht der extremen Seite der Anfang vom Abfall – “sogar” Frauen Pastoren sind.
Der Riss geht leider auch durch die Familien unserer Vorfahren. Gut, die ganz extremen Beispiele sind wohl nicht dabei, aber es gab Anhänger der konservativen Gangart und der an die Lebenswirklichkeit angepassten modernen Denkweise.
Der freikirchliche Glaube und die Gemeinde Gottes ist aber wesentlicher Bestandteil unserer Familiengeschichte und trägt zum Verständnis unserer Vorfahren bei. Egal, wie man nun persönlich dazu steht.